BOCHUM. Die Ungerechtigkeiten eines weitgehend freien Marktes treten während der Corona-Pandemie offener zutage als zuvor. Große Unternehmen erhalten Staatshilfen und schütten dennoch Dividenden an Aktionärinnen und Aktionäre aus. Pflegende hingegen, die sich in erster Reihe den Gefahren einer Virusinfektion aussetzen müssen, erhalten bestenfalls Applaus und einen Lavendel. „Die bisherigen Prämien für Beschäftigte in den Bereichen des SGB V und XI haben wir zwar wohlwollend zur Kenntnis genommen“, so Benjamin Jäger, Vorsitzender der Pflegegewerkschaft BochumerBund. Allerdings ändern diese Prämien nichts an den oft schlechten Arbeitsbedingungen. Zumal auch noch die ohnehin viel zu niedrig veranschlagten Personaluntergrenzen ausgesetzt wurden.
„Wir vermissen in der Gesundheitspolitik die Entwicklung langfristiger Strategien für den Pflegeberuf bzw. zur Sicherstellung der pflegerischen Versorgung. Der BochumerBund lehnt Zahlungen ab, die fast wie Schweigegeld wirken und keine Strategie ersetzen können. Denn die Pflege wird hier nicht gleich behandelt, obwohl das Coronavirus jeden Bereich der pflegerischen Versorgung beeinflusst“, so der Gewerkschafter. Er fordert stattdessen Weiterbildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten für die Pflegefachpersonen: „Es muss nach dem Examen Optionen für einen beruflichen Aufstieg geben.“
Die Pflegegewerkschaft BochumerBund kritisiert daher scharf das bisherige Agieren in der Pflege- und Gesundheitspolitik. „Der Applaus klang angesichts fehlender realistischer Aussichten auf mehr Personal oder höhere Löhne von Anfang an wie Hohn“, meint Kerstin Paulus, Beisitzerin im Gewerkschaftsvorstand. „Das bestätigte sich in der zweiten Infektionswelle, als der fehlende Wille der Politik zu Verbesserungen offenkundig wurde.“
Die Intensivpflegerin fordert deshalb eine Reduktion der Wochenarbeitszeit. „Die Kolleginnen und Kollegen müssen vor körperlichen und psychischen Gefahren geschützt werden. Professionelle Care-Arbeit muss ohne Aufopferung stattfinden können. Wenn wir das nicht schaffen, wird das Problem des Pflegepersonalnotstands nie behoben werden können”, befürchtet sie.
Eine kürzlich veröffentlichte Studie der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg belegt, was Pflegende schon lange wiederholt an die Verantwortlichen herangetragen haben: Eine überwältigende Mehrheit des Pflegepersonals von 88 % fühlt sich durch die Corona-Pandemie überlastet. Eine adäquate Versorgung der Patientinnen und Patienten ist kaum noch sicherzustellen. Auch sehen sich 71 % der Pflegekräfte aus Zeitmangel genötigt, lebensnotwendige vorsorgliche Maßnahmen gegen Infektionen oder Thrombosen zu unterlassen. Konkret bedeutet das für alle betroffenen Erkrankten ein wachsendes Risiko, im Krankenhaus zu versterben. „Das Problem betrifft uns alle“, unterstreicht Kerstin Paulus.
Der Zeitdruck und das damit einhergehende Risiko schlechter oder gar gefährlicher Pflege ist für Pflegende eines der Kernprobleme des Berufs – neben einer völlig unangemessenen Bezahlung und mangelnder Anerkennung der pflegerischen Leistungen, Viele Studien belegen, dass das Gesundheitssystem durch gute Pflege geschont wird: Eine Beendigung des Drehtüreffekts in den Krankenhäusern kann der Kranken- und der Rentenkasse viel Geld sparen.
„Wir Pflegende stellen hohe moralische Prinzipien an uns selbst und wollen eine gute Pflege gewährleisten – und das nicht nur, weil wir haftbar gemacht werden können, wenn die Pflege sich nicht nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen richtet und der Patientin bzw. dem Patienten schadet. Aber die Verhältnisse bzw. Strukturen erlauben es viel zu häufig nicht, gute Pflege zu leisten“, so Paulus weiter. Diese Diskrepanz zwischen unserer professionellen Haltung und den Zuständen, in denen Pflege geleistet werden muss, belastet die Psyche der Pflegenden und ist nicht hinnehmbar.
In der Folge sehen viele Kolleginnen und Kollegen als einzige Option den Ausstieg aus der Pflege. Die Hamburger Studie zu den Belastungen von Pflegenden gibt an, dass 17 % der Pflegefachkräfte keine Motivation mehr für ihren Beruf verspüren und damit kurz davor sind, auszusteigen. Andere aktuelle Studien haben sogar rund ein Drittel an potentiellen Berufsaussteigern ermittelt.
„Es handelt sich um alarmierende Zahlen, besonders weil jede einzelne nicht besetzte bzw. durch Krankschreibung ausgefallene Stelle ein weiteres großes Loch in die Versorgung der Patientinnen und Patienten reißt“, warnt Kerstin Paulus. „Es ist höchste Zeit für die Politik, zu handeln. Sollte sich nicht zeitnah etwas ändern, wird sich die Versorgung in allen Pflegesettings weiter verschlechtern und dramatische Ausmaße annehmen.“
Die beiden Vorstandsmitglieder des BochumerBund empfehlen angesichts der oftmals schlimmen Zustände allen beruflich Pflegenden, sich in Gewerkschaften, Berufsverbänden und Pflegekammern zu organisieren. „Nur gemeinsam können wir etwas erreichen. Das Versagen weiter Teile der Politik vor dem Hintergrund der Pandemie hat erneut gezeigt, dass wir uns nur auf uns selbst verlassen dürfen“, betont Kerstin Paulus.
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